Peter Orzechowski
Ist die Welt verrückt geworden? Militärs reden vom Atomkrieg

Laut Konteradmiral Thomas R. Buchanan vom US-Strategiekommando müssten die USA einen Atomkrieg führen und überstehen können. Und in Berlin wird diskutiert, ob Deutschland eigene Atombomben braucht.
Das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI berichtet, dass es weltweit rund 12 241 Atomsprengköpfe gibt. Die USA, Russland, Großbritannien, Frankreich, China, Indien, Pakistan, Nordkorea und Israel modernisieren ihre Arsenale weiter. Von diesen sind derzeit über 9500 einsatzfähig. Allein 2000 davon werden vor allem durch Russland und die USA in hoher Alarmbereitschaft gehalten.
Der Bericht verzeichnet einen deutlichen Zuwachs im Arsenal Chinas. Die Forscher erwarten, dass das Land bis Ende des Jahrzehnts über mindestens ebenso viele ballistische Interkontinentalraketen verfügen könnte wie die USA oder Russland. Auch Indien und Pakistan haben 2022 neue Arten von nuklearen Trägersystemen eingeführt und weiterentwickelt.
Militärs planen begrenzten Atomkrieg
Die Generalstäbe der Atomstreitkräfte Russlands und der USA prüfen derzeit Einsatzoptionen mit taktischen Atomwaffen und reden bereits über die regional begrenzte Führbarkeit eines Atomkrieges: Konteradmiral Thomas R. Buchanan vom US-Strategiekommando sagt, das Ziel der USA sei es, auch nach einem Atomkrieg über ausreichende Fähigkeiten und Reservekapazitäten zu verfügen, um weiterhin als globale Führungsmacht agieren zu können.
Gewinnen definiere sich dann nicht mehr über einen klaren Sieg, sondern darüber, die Führungsrolle zu behaupten.
Der in Norfolk, Virginia (USA), stationierte deutsche Viersternegeneral Christian Badia warnt, es bestehe ein großes Risiko von Fehleinschätzungen, die zu einer ungewollten Eskalation des Krieges führen könnten. Dennoch wird in Berlin von einer eigenständigen atomaren Aufrüstung Deutschlands beziehungsweise Europas geschwafelt.
Es genüge nicht, sich einfach einem französischen Nuklearschirm zu unterstellen, heißt es zum Beispiel in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Internationale Politik, die von der außenpolitischen Denkfabrik der Bundesregierung, der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), herausgegeben wird.
Frankreich habe die Force de Frappe darauf fokussiert, per Androhung einer kompletten Vernichtung der russischen Entscheidungszentren Abschreckung zu erzielen; es verfüge nicht über taktische Atomwaffen und könne daher auf einen russischen Angriff mit derlei Waffen in Osteuropa nicht adäquat reagieren. Schon seit 2020 lädt Paris europäische Partner zu bilateralen Dialogen ein, um gemeinsam über die Rolle Frankreichs in der europäischen Abschreckung zu diskutieren.
Allerdings ist Frankreich – das hat Präsident Emmanuel Macron zuletzt im Mai betont – keinesfalls bereit, sich die alleinige Entscheidungsgewalt über einen Atomeinsatz abnehmen zu lassen. Diese bleibe, erklärte Macron, auch in Zukunft einzig und allein in Paris. Außerdem verfügt unser westlicher Nachbar – wie bereits erwähnt – über keine taktischen Atomwaffen. Setzte Russland derlei taktische Atomwaffen etwa in Osteuropa ein, wäre es unwahrscheinlich, dass Paris mit einem Einsatz seines Nuklearpotenzials »eine unkontrollierte Eskalation – und damit den nationalen Selbstmord – riskieren würde«, konstatiert die zweite wichtige Berliner Denkfabrik, die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
Eine deutsche Atombombe?
Weiterhin diskutiert wird auch die Option, in einem nationalen Alleingang eine deutsche Atombombe zu bauen. Dies gilt als kosten- und zeitintensiv. Dennoch halten Berliner Diplomaten, wie Der Spiegel berichtet, »dieses Szenario hinter vorgehaltener Hand nicht für ausgeschlossen «. Freilich wäre ein solcher Schritt mit schweren politischen Verwerfungen und Konflikten verbunden. Russland etwa werde »wohl alles tun, um nukleare Proliferation zu verhindern«, urteilt die Zeitschrift Internationale Politik. Dafür habe habe das Land erhebliche Druckmittel – denn es verfüge weiterhin über einen »Eskalationsvorteil durch strategische und taktische Atomwaffen«.
Auch die USA hätten »wenig Interesse daran, dass die Europäer eigene Atomwaffen entwickeln«. Würden Deutschland oder gar mehrere Staaten Europas »trotzdem eigene Arsenale aufbauen und damit Begrenzungen wie den Nichtverbreitungsvertrag aufgeben«, heißt es weiter in der Internationalen Politik, dann »wäre die Folge eine weitere Destabilisierung«: »Voraussichtlich würden Staaten weltweit diesem Beispiel folgen« – dies »mit dem Ergebnis eines instabilen, nuklear bewaffneten Europas«, mit »unvorhersehbaren innen- wie außenpolitischen Dynamiken« und darüber hinaus auch noch mit einer »weltweit steigenden Zahl von Atomwaffenbesitzern«. Dieser Weg sei äußerst riskant.
Für ein mögliches Vorgehen der Bundesrepublik nimmt die Internationale Politik »drei Hauptaufgaben« in den Blick. Erstens müsse man versuchen, »die USA so weit wie möglich in Europas Verteidigung zu halten«, heißt es in dem Beitrag.
Hintergrund ist die Tatsache, dass jegliche nukleare Bewaffnung der EU längere Zeit benötigt und bis zur Indienststellung europäischer Atomwaffen eine Überbrückung durch die bislang in Europa stationierten US-Atomwaffen erforderlich wäre. Zweitens, so heißt es weiter in der Zeitschrift, müssten die Staaten Europas »ihre konventionellen Fähigkeiten ausbauen, denn auch sie verändern das russische Kalkül«.
Drittens aber hätten sie »einen umfassenden nuklearen Dialog in Europa voran[zu]treiben, um Worst-Case-Szenarien durchzuspielen, nukleare Doktrinen anzupassen, technologische Kompetenzen auszubauen und zusätzliche nukleare Fähigkeiten zu erwerben«. Dies versetzte Deutschland respektive die EU tatsächlich in die Lage, relativ schnell eigene Atomwaffen zu produzieren. »Das Dilemma besteht darin«, resümiert die Internationale Politik, »die USA in Europas Abschreckung zu halten und gleichzeitig Alternativen zu entwickeln«; und das, »ohne Washington den Eindruck zu vermitteln, man bräuchte es nicht mehr«.
Der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Jens Spahn, bläst ins selbe Horn. Er hatte kürzlich erklärt, Europa müsse »abschreckungsfähig werden«. Dazu reichten die in Deutschland, Belgien, den Niederlanden und Italien stationierten US-Atomwaffen nicht aus.
Auf die Frage, ob Deutschland atomar aufrüsten solle, erklärte Spahn: »Ich weiß, welche Abwehrreflexe sich jetzt sofort regen, aber ja: Wir sollten eine Debatte über einen eigenständigen europäischen Nuklearschirm führen.« Dazu sei deutsche Führung vonnöten: »Frankreich wird uns an seinen roten Knopf, um im Bild zu bleiben, ziemlich sicher nicht ranlassen.« Eine nukleare Bewaffnung werde teuer, räumte Spahn ein; doch »wer nicht nuklear abschrecken kann«, werde »zum Spielball der Weltpolitik«.
Dieser Beitrag ist zuerst in KOPP Exklusiv (Ausgabe 30/25) erschienen.
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Samstag, 26.07.2025