Wolfgang Effenberger

Afghanistan: Über 20 Jahre Krieg, Leid, Chaos und kein Ende

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Vor einem Jahr vereinbarte US-Präsident Trump mit den Taliban in Doha ein Abkommen über den Abzug der US-Truppen bis Mai 2021. Die Biden-Administration hält dieses Abkommen für kaum hinnehmbar und will es nun korrigieren. Jake Sullivan, Präsident Bidens neuer Sicherheitsberater betonte am 23. Januar 2021, dass »die USA den Friedensprozess mit robusten und regionalen diplomatischen Anstrengungen unterstützen werden«. Unter »robusten« Anstrengungen wird in der US-Administration meist der massive Einsatz von Militär verstanden. Der sich daraus ergebende Druck soll dann »diplomatische Erfolge« ermöglichen. Das hat bisher eigentlich nie funktioniert. So hofft Pakistans Außenminister Shah Mahmood Qureshi inständig, dass die Biden-Regierung den Friedensprozess vorantreibt, und die USA das Doha-Abkommen nicht verändern. Die Hoffnung dürfte vergebens sein.

Neue Gewalt torpediert Friedensgespräche

Rechtzeitig vor dem Abzugstermin stocken die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban, die Sicherheitslage ist angespannt. So ist mit dem Abzug der gut 10 000 Einsatzkräfte (Bundeswehr ca. 1.100) derzeit wohl nicht zu rechnen. Laut Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer geht es auch um die Frage, wie man sich auf eine erhöhte Bedrohung der internationalen Truppen durch die Taliban einstellt. Im ZDF-Interview beeilte sich General Yasin Zia, Oberbefehlshaber der Afghanischen Armee, die so gut wie ausschließlich von westlichen Hilfsgeldern bezahlt wird, die Einschätzung der Verteidigungsministerin zu untermauern:

»Die USA sollten ihre Entscheidung, ihre Truppen abzuziehen, überdenken. Der Kampf gegen den Terrorismus war eine internationale Angelegenheit, deswegen sind sie nach Afghanistan gekommen, um den Feind hier zu bekämpfen. Dieser Feind ist immer noch aktiv.«

Das Statement des Generals kommt nicht überraschend. Schließlich würde er bei einem Abzug voraussichtlich nicht nur seine Stellung, sondern auch weitere Privilegien verlieren.

Ein Teil der horrenden Stationierungskosten fließt direkt in die Taschen der von den USA gestützten Machthaber. Allein das deutsche Engagement in Afghanistan inklusive Bundeswehr-Einsatz hat seit 2001 rund 16,4 Milliarden Euro gekostet. Im Jahr 2018 beliefen sich die einschlägigen Ausgaben aus den Etats von Verteidigungsministerium, Auswärtigem Amt, Entwicklungs- und Innenressort auf 770 Millionen Euro. Was für eine Aufbauhilfe hätte mit diesen Mitteln geleistet werden können!

Es gibt durchaus Kriegsgewinner innerhalb und außerhalb Afghanistans, die ein Interesse an einer weiteren Eskalation haben. Interessiert am Stützpunkt Afghanistan sind auch US-Geostrategen.

Sie können von Afghanistan aus in die Nachbarstaaten Iran und Pakistan und indirekt über den islamischen Bauch – Turkmenistan, Usbekistan und Kasachstan – nach Russland eindringen sowie über die Nord-Ost-Verbindung, den Wakhan-Korridor, nach China in die turksprachige Uiguren-Provinz Xinjiang vorstoßen.

Ausblenden der US-Politik seit 1979

Die Aussage des US-Verbündeten Zia blendet nicht nur die geschichtlichen Vorgänge komplett aus, sondern stellt sie sogar auf den Kopf. Die Tatsache, dass US-Präsident Jimmy Carter am 3. Juli 1979 die erste Direktive zur heimlichen Unterstützung durch Anwerbung von islamischen Fundamentalisten – später als Mudschaheddin bekannt – unterzeichnete und damit die islamistische Büchse der Pandora öffnete, wird im Westen komplett verschwiegen. Noch am gleichen Tag, so bestätigte Carters Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski, »habe ich dem Präsidenten eine Note geschrieben, in der ich ihm erklärte, dass diese Unterstützung (…) eine militärische Intervention der Sowjets nach sich ziehen würde.«

Als knapp 6 Monate später die Sowjet-Truppen in Afghanistan einmarschierten, hielt Brzezinski fest: Nun hätten die Amerikaner »die Gelegenheit, den Sowjets ihr Vietnam zu bescheren.«

Der Einmarsch der Sowjetunion hatte aber noch einen anderen Grund: Mit der iranischen Revolution 1978/79 hatten die USA alle Abhörstationen an der iranisch-sowjetischen Grenze verloren. Das war ein strategischer Verlust, den man weder verschmerzen konnte noch wollte. Für die USA war Eile geboten und ein Ersatz musste her. Die damalige afghanische Regierung und die USA wurden sich handelseinig. Die Abhörstationen an der afghanisch-sowjetischen Grenze sollten die Lücke schließen. Dieser Zusammenhang wurde laut Willy Wimmer (CDU-MdB 1976 bis 2009) bei den regelmäßigen Treffen in der Berliner »Parlamentarischen Gesellschaft« mit ehemaligen Botschaftern der DDR transparent gemacht.

1996 tauschte dann die CIA zusammen mit dem pakistanischen Geheimdienst ISI die in Kabul regierenden und zerstrittenen Mudschaheddin gegen die Taliban aus – vornehmlich junge Paschtunen aus den Koran-Schulen afghanischer Flüchtlingslager. Von den damaligen Taliban wurde die westliche Welt nicht mit Terror überzogen, auch unter den neunzehn 9/11-Attentätern waren keine Taliban, dafür kamen 15 der Attentäter aus Saudi-Arabien.

Trotzdem wurde Afghanistan nur 27 Tage nach dem Terroranschlag auf die WTC-Türme mit Krieg überzogen. Der Kriegsgrund? US-Präsident G.W. Bush verlangte die unmittelbare Auslieferung des angeblichen Terror-Drahtziehers Osama bin Laden, der vorher im Rahmen von Carters Initiative ebenfalls rekrutiert worden war. Dieser saudi-arabische Gotteskrieger hatte in Afghanistan Asyl erhalten. Die Taliban verwiesen auf den hohen Stellenwert des Asylrechts, dessen Aufhebung einem obersten Mullah-Rat vorbehalten sei. Bevor dieser überhaupt eine Entscheidung treffen konnte, hatten sich die USA schon mit der fragwürdigen Nordallianz verbunden. Deren Warlord, Raschid Dostum, später Vizepräsident von Afghanistan,  ließ im Herbst 2001 rund 3.000 gefangene Taliban ermorden.

Er hatte die Gefangenen zu je 300 in Container ferchen und dann in die Wüste fahren lassen, wo sie qualvoll umkamen. Eine Untersuchung dieses unvorstellbaren Kriegsverbrechens fand nie statt.

Die westliche Wertegemeinschaft schaute weg. In Afghanistan dürfte dieses Verbrechen samt seiner Vertuschung nicht vergessen sein. Und sicherlich auch nicht die Aussage des damaligen deutschen Verteidigungsministers Peter Struck: »Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt.«

Die jeweiligen Bundesregierungen schlugen Volten, um für die Kämpfe in Afghanistan ja nicht das Wort Krieg zu gebrauchen. Immer noch behauptet die deutsche Bundesregierung, dass Deutschland keinen Krieg führe. Bisher haben 59 Soldaten in Afghanistan ihr Leben gelassen – 37 von ihnen fielen in Gefechten oder wurden bei Anschlägen getötet.

Bundestag nickt seit 19 Jahren Mandatsverlängerung ab

Seit nunmehr 19 Jahren agiert die Bundeswehr mit Zustimmung des Bundestags in Afghanistan. Doch wurde jemals im Bundestag nach dem Kriegsgrund gefragt? Ohne wirkliche Aufklärung über die Hintergründe hat der Bundestag die Zustimmung zum Einsatz in Afghanistan gegeben und diesen immer wieder verlängert.

Kurz vor der NATO-Tagung am 18.2.2021 verkündete die Wehrbeauftragte des Bundestags Eva Högl (SPD) in vorauseilendem Gehorsam, dass die Bundeswehr auf eine mögliche Verlängerung des internationalen Truppeneinsatzes in Afghanistan eingestellt sei. Damit hat Frau Högl ihre Kompetenzen weit überschritten. Als Hilfsorgan des Bundestages hat sie die parlamentarische Kontrolle über die Bundeswehr auszuüben und über die Grundrechte der Soldatinnen und Soldaten sowie über die Einhaltung der Grundsätze der Inneren Führung zu wachen. Der frühere deutsche Nato-General Ramms forderte im Fall eines Angriffs auf die verbliebenen Nato-Partner die Aufstockung des Mandats. Das ist häufig die Antwort hoher Militärs: Eskalation mit Eskalation bekämpfen. Eine tödliche Einbahnstraße!

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Reinhard Erös hält militärischen Einsatz für kontraproduktiv

Reinhard Erös, Gründer der »Kinderhilfe Afghanistan« und ehemals aktiver Bundeswehr-Oberstarzt in Afghanistan, setzt keine großen Hoffnungen in die Verhandlungen der NATO-Verteidigungsminister über den Abzug aus Afghanistan. Er plädiert dafür, ins Zivile zu investieren, und zwar direkt in konkrete Hilfsprojekte in den Provinzen und nicht in die Taschen der Funktionäre in Kabul.

Die militärische Führung – gemeint sind hier die goldbetressten Generale – ist nach Aussagen vieler Soldaten, mit denen Erös gesprochen hat, zu feige oder zu karrierebewusst, um öffentlich die Wahrheit darüber zu sagen, was in Afghanistan vor sich geht. Auch den jeweiligen Verteidigungsministern sei in den vergangenen Jahren erzählt worden, was sie hören wollten.

Erös zitiert einen hohen deutschen General in Afghanistan, der vor vier Jahren in einem Interview mit einer großen deutschen Militärzeitung sagte:

»Wir, die Bundeswehr oder die Nato, kann jetzt aus Afghanistan abziehen. Wir haben unsere Ziele erreicht. Die afghanischen Sicherheitskräfte sind ab jetzt perfekt in der Lage, die Sicherheit im eigenen Land selbst zu garantieren.«

Einen ähnlichen Satz hatte vor 22 Jahren der damalige sowjetische General Kasumov beim Abzug der Sowjets geäußert:

»Wir hinterlassen ein sozialistisches Afghanistan auf bestem Wege.«

In der Schönfärberei sind sich die Militärs wohl überall gleich. Und die Medien versäumen es, die Aussagen der Militärs und der Politiker und Politikerinnen auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen.

Erös zufolge ist die Präsenz der Bundeswehr im Norden von Afghanistan – in Mazar oder in Kabul – mit ihren knapp 900 Soldaten so »egal wie der Sack Reis, der da umfällt. Das spielt überhaupt keine Rolle! – Null!«

Für die westliche Wertegemeinschaft ist es jedenfalls beschämend, dass der am 12. September 2001 ausgelöste Krieg gegen den Terror ein Land und dessen unschuldige Bevölkerung ins Chaos gestürzt hat, nur weil es seit 1979 zum Spielball geostrategischer Interessen geworden ist.

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Dienstag, 23.02.2021