Peter Orzechowski

Die NATO rückt nach Osten vor

Während die Weltöffentlichkeit durch den britischen Propagandakrieg gegen Russland abgelenkt ist, vollzieht sich eine weltpolitisch bedeutsame Veränderung: Die NATO hat der Ukraine – und daneben auch Mazedonien, Georgien und Bosnien-Herzegowina – den Status des Beitrittskandidaten verliehen. Damit rückt die NATO an Russlands Grenzen vor – und das mit beispielloser Geschwindigkeit.

»Wir arbeiten extrem hart an einer NATO Mitgliedschaft. Unser Ziel ist es, in den kommenden zehn Jahren Teil des Bündnisses zu sein«, sagte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko in einem Interview mit den Zeitungen der Funke-Mediengruppe, das am 19. März veröffentlicht wurde, und er fügte hinzu:

»Die NATO wäre mit der Ukraine viel stärker und effizienter als heute.«

Die NATO-Staaten könnten laut Poroschenko von der Ukraine die »Auseinandersetzung mit Russland« lernen. Was er damit meint, ist allerdings unklar. Denn Kiew kämpft seit 2014 erfolglos im Osten des Landes gegen prorussische Rebellen. Die Propaganda, dass die Separatisten vom Kreml unterstützt würden, versuchte, diese militärische Niederlage zu übertönen. Mehr als 10 000 Menschen wurden in dem Konflikt bislang getötet. Mit Blick auf die Krim-Krise erklärte Poroschenko: »Russland hat das internationale Ordnungssystem nach dem Zweiten Weltkrieg ruiniert. Es gibt für die globale Sicherheit keine Alternative zu einer starken NATO… Jetzt brauchen wir einen Plan zur NATO-Mitgliedschaft. Den streben wir bis zum Jahresende 2019 an.«

Ein derartiger Aktionsplan umfasst in der Regel einen vertieften politischen Dialog zwischen den Beitrittskandidaten und dem Bündnis sowie Reformen zur Anpassung an NATO-Standards. Noch mehr Geld also für den ukrainischen Militärhaushalt? Schon jetzt gibt die Ukraine nach Regierungsangaben sechs Prozent der ukrainischen Wirtschaftsleistung für Verteidigung aus – mehr als die anderen NATO-Mitgliedsländer mit Ausnahme der USA auszugeben bereit sind.

Die NATO kurz vor ihrem Ziel

Die Zusammenarbeit zwischen der NATO und der Ukraine hatte nach dem Ende des Kalten Krieges begonnen. Im Jahr 1991 war die Ukraine dem Nordatlantischen Kooperationsrat und drei Jahre später der »Partnerschaft für den Frieden« beigetreten. Die Beziehungen waren 1997 durch die Unterzeichnung der Charta für eine besondere Partnerschaft gestärkt worden. Es wurde die NATO Ukraine-Kommission (NUC) gegründet. Die Deklaration zur Ergänzung der Charta im Jahr 2009 beauftragte die NUC, Reformen zur Umsetzung euro-atlantischer Standards voranzutreiben.

Als Reaktion auf den Russland-Ukraine-Konflikt baute die NATO seit 2014 kontinuierlich Stützpunkte in dem Land auf und rüstete die ukrainischen Streitkräfte mit westlichen Waffen. Mittlerweile betreibt die US Navy einen Stützpunkt im Schwarzmeerhafen von Otschakiw, gut 100 Kilometer nördlich der Krim. Derzeit sind nach Angaben der NATO im Westen der Ukraine 300 US-Soldaten als Ausbilder tätig. Sie trainieren alle 55 Tage ein neues Bataillon der ukrainischen Streitkräfte. Am Ende der 55 Trainingstage finden Feldübungen statt. Die Aufgabe der Ausbilder sei es, eine Ausbildungsstruktur aufzubauen, damit sich die ukrainischen Soldaten selbstständig trainieren können, so die NATO.

Der ukrainische Verteidigungsminister Poltorak nannte exakte Zahlen für das Jahr 2017: Es seien zehn Bataillone, 25 Staffeln und mehr als 1400 Ausbilder gemäß NATO Standards ausgebildet worden. Auch die Zahl der taktischen Übungen der Brigaden und der Bataillone sei 2017 auf insgesamt 145 gestiegen. Dazu kämen zwölf taktische Flugtrainingseinheiten. Während der Militärübungen seien 668 militärische NATO-Standards umgesetzt worden. Rund 40 Prozent der Generalstabsstrukturen der ukrainischen Armee seien in Übereinstimmung mit der Struktur der NATO-Kommandoeinheiten gebracht worden. Weiterhin wurde eine Reservistenarmee von 140 000 Personen gegründet. Die ukrainische Armee soll 1400 Rüstungsgegenstände erhalten haben, während 19 neue Waffensysteme und Hardware eingeführt worden sein sollen.

US-amerikanische und NATO-Truppen haben seit 2014 dazu beigetragen, die ukrainische Armee von mehr als 100 000 auf 250 000 Soldaten zu vergrößern. Aber die Aufrüstung hat gerade erst begonnen: Ende 2017 gab das US-Außenministerium bekannt, dass die Bereitstellung »verstärkter Verteidigungsfähigkeiten« für die Ukraine genehmigt worden sei. Diese »Verteidigungswaffen« sind zum Beispiel das Barrett M107A1-Scharfschützengewehr für große Distanzen oder die FGM-148 Javelin-Panzerabwehrrakete von Lockheed Martin. Moskau hatte daraufhin mit Blick auf die Kämpfe im Osten der Ukraine erklärt, das geplante Rüstungsgeschäft werde »zu neuem Blutvergießen« führen.

Wie das US Außenministerium mitteilte, soll Kiew 210 Anti-Panzer-Raketen und 37 Raketenwerfer des Javelin-Systems im Wert von 47 Millionen Dollar (knapp 40 Millionen Euro) erhalten. Sollte der US-Kongress dem Geschäft zustimmen, können die Waffen binnen zwei Monaten geliefert werden.

Die NATO holt noch weiter aus

Aber es geht der NATO um weitaus mehr als nur um die Ukraine. Am 2. März schlossen die Ukraine, Moldawien und Georgien ein Verteidigungsbündnis gegen Russland. Der Bund erneuert die am 10. Oktober 1997 geschlossene Sicherheitsallianz, die ihren Namen aus den Anfangsbuchstaben der vier Staaten ableitet: GUAM (Georgien, Ukraine, Aserbaidschan und Moldawien). Jeder der vier GUAM Staaten bietet Konfliktmöglichkeiten, denn jeder grenzt an Russland bzw. an dessen Verbündete.

Gerade der südwestliche Nachbar der Ukraine, Moldawien, will mit aller Macht in die NATO. Das Land kündigte größere Waffenkäufe beim Bündnis an und räumt den US-Marines bereits den Stützpunkt Bulboaca ein. Von dort sind es nur etwa zehn Kilometer bis zur Grenze zu Transnistrien, jener kleinen abgespaltenen Teilrepublik, die unter dem Schutz Moskaus steht. Sollte es von anderen NATO-Mitgliedstaaten Bedenken gegen den Beitritt dieses von Korruption gebeutelten Landes geben, könnte Moldawien dennoch – sozusagen durch die Hintertür – beitreten, indem es sein Militär in das Rumäniens integriert. Georgien hat seit dem Fünf-Tage-Krieg im August 2008 gegen Russland nicht aufgehört, an die NATO-Tür zu klopfen.

Es hat den Anschein, dass US-Präsident Trump bald die Tür öffnen wird. Auch die Bald-NATO-Mitglieder Mazedonien und Bosnien-Herzegowina nehmen eine wichtige geopolitische Rolle ein: Mit ihrem Beitritt ist der Ring um das mit Russland befreundete Serbien geschlossen.

Umgeben von Ungarn im Norden, Rumänien im Osten, Bosnien-Herzegowina im Westen und Montenegro, Kosovo und Mazedonien im Süden bleibt Belgrad auf Dauer keine andere Wahl, als selbst dem Militärbund beizutreten. Was heißen nun diese Entwicklungen für einen möglichen Krieg des Westens gegen Russland? Die Möglichkeiten, einen NATO-Bündnisfall auslösen zu können, erhöhen sich mit einer Mitgliedschaft der Ukraine, Bosnien-Herzegowina, Moldawiens und Georgiens.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Kopp Exklusiv.
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