Willy Wimmer

»Ob es für die Anwesenheit amerikanischer Streitkräfte in Deutschland überhaupt noch eine Legitimationsbasis gibt?«

Das kennt man noch: alle Räder müssen rollen, für was eigentlich?

Der nächste NATO-Gipfel in Brüssel am 11./12. Juli 2018 wird es in sich haben. Dazu trägt in erster Linie der inzwischen nicht mehr ganz so neue amerikanische Präsident Donald Trump bei. Natürlich wegen seines landläufig bekannten Geredes darüber, dass die europäischen NATO-Mitglieder durch eine Steigerung von Militärausgaben ihren Beitrag zur Finanzierung amerikanischer Stationierungstruppen in Europa zu leisten haben. Das wird als europäisches Interesse an einer Verteidigung ausgegeben, obwohl es der Durchsetzung amerikanischer Interessen auf dem Globus und vor allem in Europa dient.

Dennoch wird das überwiegende Interesse deshalb auf Donald Trump liegen, weil er wenige Tage nach seinem Treffen mit dem nordkoreanischen Machthaber Kim Jong und nach Brüssel einfliegen wird. Bis zu seiner Ankunft in Brüssel werden die internationalen Kommentatoren die Ergebnisse der Begegnung so intensiv hin und her gewendet haben, dass für das NATO-Treffen in Brüssel ein Meinungsbild feststehen dürfte. Dennoch ist es für die Menschen in Europa von allergrößter Bedeutung, wie die künftige amerikanische Politik auf dem Globus verlaufen wird.

Wie verhalten sich die USA einem Land gegenüber, das zwar von einer völligen Auslöschung durch die USA nach den Worten des amerikanischen Präsidenten bedroht ist, aber seinerseits den Vereinigten Staaten nicht hinnehmbaren Schaden verursachen könnte? Welches Geschäftsmodell wird die USA unter dem amerikanischen Präsidenten in Zukunft verfolgen und wird sich dieses Modell von der bisherigen Washingtoner Kriegsallianz unterscheiden? Wird das Geschäftsmodell »Krieg als globaler Dauerzustand« durch die Öffnung der Vereinigten Staaten für das Gründungskonzept der Vereinten Nationen, dem Frieden nämlich, abgelöst werden?

Da reicht es für die europäischen Mitgliedsstaaten der NATO nicht, den berühmten Finger in die Luft zu halten, um die jeweilige Windrichtung aus Washington feststellen zu können. Sie müssen schon die Frage danach beantworten, wie sie innen-und außenpolitisch die Tatsache bewerten, dass mit Trump ein amerikanischer Präsident ins Amt gekommen ist, der den augenfälligen staatlichen Kollaps der Vereinigten Staaten als Ergebnis einer ausufernden Kriegspolitik gegenüber dem Washingtoner Establishment aufzuhalten versprochen hatte? Natürlich wird das den Merkels dieser Welt schwerfallen, da sie sich nicht gescheut haben, noch nach der Wahl des Präsidenten Donald Trump so offensichtlich auf die Repräsentanten der geläufigen amerikanischen Kriegspolitik zu setzen, dass einem durchschnittlichen Europäer schon schlecht werden konnte.

Anders dürfte das Berliner Verschwörer-Treffen im Herbst 2016 auch von Präsident Trump nicht bewertet werden, als die deutsche Bundeskanzlerin vom Amtsvorgänger des heutigen amerikanischen Präsidenten Trump, Barack Obama, geradezu den Ritterschlag zur Widerstands-Leisterin gegen Trump als Rest-Führerin der globalisierten Welt in Empfang nehmen durfte. Seitdem beschleicht viele Bürger in Europa ein merkwürdiges Gefühl, das sich mehr und mehr verstärkt. Natürlich ist es geboten, deutsche und europäische Interessen in die NATO und generell in die internationalen Beziehungen einzubringen, wenn das nötig ist. Genau das haben europäische Spitzenvertreter allerdings unterlassen, als es geboten war, sich der Vernichtung der internationalen Friedensordnung durch die Vereinigten Staaten entgegenzustellen. In Deutschland hat man diesem Nach-Dackeln hinter amerikanischen Zumutungen sogar die wesentliche Errungenschaft des Grundgesetzes geopfert, als man sich an Angriffskriegen der in Nürnberg eigentlich geächteten Art im amerikanischen Interesse beteiligte oder im Stile von Winkel-Advokaten die Charta der Vereinten Nationen aushebelte.

Dabei müssten sich heutzutage die Vereinigten Staaten bei diesem Gipfeltreffen in Brüssel darüber im Klaren sein, wie ihr Vorgehen in Europa bewertet werden muss. Es ist nicht nicht nur das dumpfe Erinnern an die dunkelste Zeit in der jüngeren europäischen Geschichte, als »alle Räder für den Sieg« gen Osten rollen mussten. Mitten im Frieden erwecken die amerikanischen Panzerkolonnen auf deutschen und westeuropäischen Autobahnen, zeitgerecht zur in Russland stattfindenden Fußball-Weltmeisterschaft, ein schreckliches Bild. Der Zweite Weltkrieg scheint auf, allerdings diesmal mit der neuen Allianz der damaligen Kriegsgegner gegen das damals vor allem mit den Vereinigten Staaten verbündete Russland.

Der nachdrücklichste Eindruck wird dabei von den westlichen Panzern gleichsam in den Vororten von St. Petersburg vermittelt. Ist das die Welt, die sich die Menschen in Europa unter der Charta von Paris vorgestellt haben, als diese im November 1990 Frieden und Verständigung in Europa in Aussicht stellte? Oder ist es in einem Jahr, in dem an das Ende des Ersten Weltkrieges und den alliierten Vernichtungsschlag gegen die europäische Friedensmacht Deutschland über Versailles 1919 erinnert werden muss, nur die Fortsetzung einer langfristigen amerikanischen Politik gegenüber dem europäischen Kontinent? Alleine zurückzuführen auf den Umstand, dass es Deutschland in seiner Bedeutung des Jahres 1914 und Russland in seiner fortwährenden Bedeutung bis heute gab und gibt?

Die fortgesetzte Aggressionspolitik des NATO-Westens gegenüber Russland vermittelt den Eindruck, dass sich auf der amerikanischen Seite nichts, aber auch gar nichts geändert hat und das hat unauslöschliche Konsequenzen dafür, wie letztlich das amerikanische Vorgehen nach der deutschen Reichsgründung 1871 zu bewerten ist. Nicht von denen, die die Sieger-Geschichte nachkauen und die Auseinandersetzung mit allen Aspekten der Geschichte zu hintertreiben versuchen, sondern von denjenigen, die nicht in Spalter-Absicht die Beziehungen zwischen Menschen und Staaten zu gestalten trachten. In dem Maße, wie amerikanische Panzer gen Osten über deutsche Autobahnen rollen, läuft der geschichtliche Film rückwärts und nimmt die Rolle der Vereinigten Staaten gegenüber den Mittelmächten Österreich-Ungarn und Deutschland sowie unter globalen Aspekten gegenüber dem Vereinigten Königreich in den Fokus.

Präsident Donald Trump ist der erste amerikanische Präsident, der sich in Europa dieser Betrachtung stellen muss. Es ist nicht ohne Grund so, dass heute in Deutschland darüber publiziert wird, wie der Griff der Vereinigten Staaten seit Roosevelt nach der Weltmacht zu bewerten ist. Der bekannte deutsche Publizist Dr. Wolfgang Bittner hat diesen Reigen mit seiner bis heute führenden Arbeit über »Die Eroberung Europas durch die USA« vor einigen Jahren eröffnet. Will Präsident Trump diese Diskussion vertiefen oder geht sein Interesse darauf aus, die Beziehungen zu Westeuropa und dem ganzen Kontinent kooperativ zu entwickeln? Das ist die eigentliche Frage, denn im öffentlichen Bild gräbt sich mehr und mehr ein, dass die Vereinigten Staaten ohne Krieg nicht sein können, während Russland ohne Frieden nicht sein will.

Aber es tut sich ein anderer Bruch auf, wenn sich das Rollen der Panzerketten und das mögliche Drama eines Krieges in Europa verstärken sollten. Es ist die Frage danach, ob es für die Anwesenheit amerikanischer Streitkräfte in Deutschland überhaupt noch eine Legitimationsbasis gibt? Natürlich hat die deutsche Wiedervereinigung und damit die Rückgewinnung der deutschen Souveränität in vollem Umfang eine rechtliche Zäsur für den Verbleib amerikanischer Truppen in Deutschland bedeutet. Das wurde schon darin deutlich, dass das bis zu diesem Zeitpunkt geltende Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut nach der Wiedervereinigung neu verhandelt werden musste. Diese Neuverhandlung war allerdings daran geknüpft, dass dies auf der Grundlage des völker- und staatsrechtlich einwandfrei zustande gekommenen NATO-Vertrages geschah, dessen Gültigkeit für Deutschland an die Zustimmung des Deutschen Bundestages geknüpft war.

Diese Zustimmung war seinerzeit allerdings mit der Maßgabe erteilt worden, dass es sich bei der NATO um eine reine Verteidigungsorganisation nach den Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen in einem regional strikt festgelegten Handlungsraum handeln würde. Durch das neue strategische Konzept des NATO-Gipfeltreffens in Washington 1999 wurde diese Zweckbestimmung der NATO zugunsten einer weltweiten Aufgabe als Aggressionsbündnis aufgegeben. Dieser Substanzänderung des NATO-Vertrages hat kein Parlament eines Mitgliedsstaates zugestimmt und keine Regierung hat sich getraut, eine derartige Vertragsänderung ihrem Parlament auch nur vorzulegen.

Auf dieser Grundlage haben die Staaten seit der Aggression gegen Jugoslawien Krieg geführt, aber gerade deshalb ist die Geschäftsgrundlage für die Anwesenheit amerikanischer und auch britischer Truppen in Deutschland entfallen. NATO-Vertrag und das nur für Deutschland geltende Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut gehen nur von einem bis zur Oder geltenden Verteidigungsbündnis aus. Alles, war darüber hinaus seit der deutschen Wiedervereinigung geschieht, hat im deutschen und internationalen Recht keine Grundlage. Diese wird auch nicht dadurch geschaffen, dass seitens der Vereinigten Staaten gegenüber der Russischen Föderation eine Situation der Konfrontation herbeigeführt wird. Das ist das eigentliche Thema für das Gipfeltreffen in Brüssel.

Von Willy Wimmer, Staatssekretär des Bundesministers der Verteidigung, Jüchen, 7. Juni 2018.

Quelle: World Economy